Beim Pflichtteilsrecht greift der Gesetzgeber in die Testierfreiheit ein. Er schützt die gesetzlichen Erben, die nicht leer ausgehen sollen, indem er ihnen wenigstens die Hälfte ihres Erbes zukommen lässt. Will der Erblasser verhindern, dass nicht bedachte, gesetzliche Erben ihren Pflichtteil verlangen, kann er dies nur durch einen Erbvertrag mit dem jeweiligen Erben vor dem Notar ausschließen, es sei denn, der Abkömmling hat Veranlassung gegeben, dass ihm der Pflichtteil entzogen wird. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn er dem Erblasser nach dem Leben getrachtet oder eine Unterhaltspflicht böswillig verletzt hat. In diesem Fall kann der Erblasser in seinem Testament mit einer entsprechenden Begründung dem Erb- und damit auch Pflichtteilsberechtigten den Pflichtteil entziehen.
Das Gesetz schützt den Pflichtteilsberechtigten auch davor, dass der Erblasser zu Lebzeiten sein Vermögen und damit auch den späteren Nachlass, durch Schenkungen vermindert. Der „Enterbte“ kann als Ergänzung des Pflichtteils nämlich den Betrag verlangen, um den sich der Pflichtteil erhöht, wenn der verschenkte Gegenstand dem Nachlass hinzugerechnet wird. Hierbei sind die letzten zehn Jahre vor dem Todesfall zu berücksichtigen. Schenkungen vor dieser Zeit erhöhen den Nachlasswert für die Pflichtteilsberechtigten nur, wenn die Schenkung an den Ehegatten erfolgt ist; dann beginnt die Frist nicht vor der Auflösung der Ehe zu laufen.
Diese Zehn-Jahres-Frist galt für Erbfälle bis einschließlich Dezember 2009 in vollem Umfang. Jede Schenkung wurde zu 100 Prozent berücksichtigt. Seit dem 1. Januar 2010 ist das anders. Die Schenkung wird nun lediglich innerhalb des ersten Jahres vor dem Erbfall in vollem Umfang berücksichtigt und verringert sich für jedes weitere Jahr vor dem Erbfall um jeweils ein Zehntel. Damit sind die Rechte des Erblassers wieder gestärkt worden.
Aber was gilt für Pflichtteilsberechtigte, die zum Zeitpunkt der Schenkung noch nicht geboren waren?
Können sie sich auf eine solche Schenkung innerhalb der letzten zehn Jahre berufen, wenn sie zum Zeitpunkt der Schenkung noch nicht gelebt haben? Bisher hatte der Bundesgerichtshof (BGH) einen Pflichtteilsergänzungsanspruch nur dann anerkannt, wenn der Berechtigte sowohl im Zeitpunkt des Erbfalls als auch zur Zeit der Schenkung gelebt hat - so genannte Theorie der „Doppelberechtigung“. Diese Rechtsprechung hat der BGH in seiner Entscheidung vom 23. Mai 2012 aufgegeben.
Folgender Fall (vereinfacht) war zu entscheiden: In einem gemeinschaftlichen Testament aus dem Jahr 2002 hatten sich die Ehepartner gegenseitig zu Vorerben eingesetzt und die Kinder zu Nacherben bestimmt. Schon im Jahr 1975 hatte der Ehemann seiner Ehefrau ein Grundstück geschenkt. Im Jahr 2006 starb der Ehemann. Aufgrund des Testaments war seine Ehefrau Vorerbin, die Kinder Nacherben. Damit war die gesetzliche Erbfolge, nach der die Kinder und die Ehefrau eine Erbengemeinschaft als gleichberechtigte Vollerben gebildet hätten, ausgehebelt.
Eine Tochter war allerdings bereits 1984 verstorben. Deren Pflichtteilsrecht hatte sich auf ihre Kinder, geboren 1976 und 1978, vererbt. Nun machten die Kinder gegenüber ihrer Großmutter den Pflichtteilsanspruch geltend. Bei der Berechnung des Nachlasses rechneten sie den Wert des Grundstücks hinzu, das ihr Großvater der Großmutter im Jahr 1975 geschenkt hatte.
Der BGH gab seine bisherige Rechtsprechung bezüglich der Doppelberechtigung auf und sprach den beiden Enkelkindern den Pflichtteil aus dem um den Wert des Grundstücks erhöhten Nachlasses zu.
Für den Pflichtteilsergänzungsanspruch komme es allein auf die Pflichtteilsberechtigung im Zeitpunkt des Erbfalls an, entschieden die Bundesrichter. Dem Gesetzeswortlaut sei nicht zu entnehmen, dass es auch auf den Zeitpunkt der Schenkung ankomme, sondern allein darauf, ob der Erblasser einem Dritten eine Schenkung gemacht habe. Auch die Entstehungsgeschichte des Gesetzes widerspreche dem nicht. Schon im Jahr 1900 sei zwar vorgesehen gewesen, dass der Berechtigte bereits zur Zeit der Schenkung vorhanden und pflichtteilsberechtigt war, dies habe aber schon damals die Mehrheit der Kommission abgelehnt.
Auch könne man sich nicht, wie der BGH bisher, auf die Veränderung der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse berufen. Dass die Gesellschaft nicht mehr im Wesentlichen von der Landwirtschaft geprägt sei, habe mit der Frage nichts zu tun, ob die Pflichtteilsberechtigung schon zum Zeitpunkt der Schenkung bestanden haben muss.
Außerdem würde Sinn und Zweck des Pflichtteilsergänzungsanspruchs der theoretischen Doppelberechtigung widersprechen.
Grundgedanke des Pflichtteilsrechts sei die Mindestteilhabe naher Angehöriger am Vermögen des Erblassers. Der Pflichtteilsergänzungsanspruch sei gerade geschaffen worden um eine Verkürzung dieses Teilhabeanspruchs zu verhindern. Dafür sei es unerheblich, ob der im Erbfall Pflichtteilsberechtigte auch schon im Zeitpunkt der Schenkung pflichtteilsberechtigt gewesen sei oder nicht.
Es komme auch nicht darauf an, ob der erst nach der Schenkung pflichtteilsberechtigt Gewordene beim Erblasser andere Vermögensverhältnisse kennengelernt habe, als diejenigen, die nach der Schenkung erst vorhanden gewesen seien, wie dies früher vom BGH begründet wurde. Auch bei nichtehelichen Kindern und Kindern geschiedener oder getrennt lebender Eltern kann es im Einzelfall sein, dass sie nie in der Lage waren, eine Vorstellung von den Vermögensverhältnissen des Erblassers zu entwickeln.
Ferner führe das Verlangen einer Doppelberechtigung zu einer nicht zu vereinbarenden Ungleichbehandlung von Abkömmlingen, da mehrere Kinder, von denen einige vor und nach der Schenkung geboren worden sind, ungleich behandelt würden. Dies verstoße gegen den Grundsatz des § 1924 Absatz 4 des Bürgerlichen Gesetzbuches, nach dem Kinder zu gleichen Teilen erben, also wohl auch zu gleichen Teilen pflichtteilsberechtigt sein müssen.
Mit der Aufgabe der Theorie der „Doppelberechtigung“ stärkt der BGH die Rechte der gesetzlichen Erben, die durch ein Testament „enterbt“ worden sind.
In unserer schnelllebigen Zeit, in der jede dritte Ehe geschieden wird und sich immer mehr Patchworkfamilien bilden, will der BGH sicherstellen, dass die Mindestteilhabe des gesetzlichen Erben an dem Vermögen des Erblassers gesichert bleibt. Es soll nur darauf ankommen, wer zum Zeitpunkt des Erbfalls gesetzlicher Erbe war und als solcher durch Testament ausgeschlossen worden ist.
Diese Entscheidung ist zu begrüßen. Sie wird auch dem Wunsch des Gesetzgebers gerecht, alle Erben – und damit auch die Pflichtteilsberechtigten – gleich zu behandeln.